Montagmorgen. Ich putze meine Zähne. Schon länger als nötig. Und vermeide so erfolgreich den Blick in den Spiegel.
Schon als ich heute Morgen mein Bad betrat, verzichtete ich auf die überflutende Deckenbeleuchtung. Damit ich erst gar nicht in Versuchung geriet.
Warum noch mal hatte ich diese fast wandfüllende gläserne Ego-Fläche angeschafft? Weil sie stylish cool rüberkommt und Größe schafft. Zumindest für den Raum. Nicht unbedingt für diejenige, die hineinsieht.
Der Akku meiner Elektrischen ist leer und ich schaufle mir kaltes Wasser ins Gesicht. In der Hoffnung, den schlechten Traum von letzter Nacht einfach abzuwaschen. Selbst beim Aufwachen hatte ich noch an Dorian Gray gedacht. Nein, nicht an Christian Grey. Und in dem Traum war ich auch kein sexy Aschenputtel, das seinen Sadomaso-Helden von der wahren Liebe überzeugen möchte. In meinem Traum hatte ich in einer verstaubten Dachkammer ein mannshohes Ölbild gemalt. Der Versuch eines Selbstporträts. Und Dorian Gray, bloß ein dunkler, männlicher Umriss, hatte es ausgelacht.
Nun, zum einen habe ich mein letztes Ölbild 1991 gemalt – DIN A5 groß mit einem winzigen Gartenzwerg im Mittelpunkt – zum anderen habe ich das letzte Wochenende keine männliche Bekanntschaft gemacht. Schon gar nicht namens Dorian.
Noch in Gedanken gehe ich ins Schlafzimmer zurück, um das Bett zu machen. Mein Blick fällt beiläufig auf das Regal mit meinen liebsten Buchklassikern. Sozusagen mein selbst bestimmtes literarisches Best Of. Und da steht es. Unscheinbar neben „Die Zeitmaschine“ und „Caspar Hauser“: Das Bildnis des Dorian Gray.
Den Titel des Buches kennen vermutlich die meisten. Worum es im Wesentlichen geht, einige. Ich schüttel Decke und Kissen auf und überlege, warum ich nach all der Zeit, seit ich das Buch gelesen habe, ausgerechnet jetzt von Dorian träume. Ein Typ, der seine Seele wegen seines eigenen Porträts verpfändet und mit dem es hernach mehr als steil bergab geht.
Wer Oscar Wildes einzigen Roman nicht gelesen hat, kennt dafür vermutlich eine der zahlreichen Verfilmungen, Ballett-, Opern- oder Theaterfassungen, eventuell eine Hörspielversion oder am ende gar eine der zurzeit sieben Comicadaptionen. Der Stoff des Buches hat es eindeutig in sich. Heute wie vor gut 126 Jahren. Nur was bedeutet er für mich?
Ich habe genug aufgeschüttelt, die Decke wird zu schwer, mein Kreislauf versagt. Ich rutsche auf die Bettkante. Zu viel Gedankenwirrwarr für Blutdruckschwache an einem Montagmorgen.
Ich atme bewusst durch, stehe langsam auf und gehe zielsicher in die Küche zu meiner geliebten Kaffeemaschine. Nicht, ohne im Vorbeischlurfen, Oscar Wildes Buch aus dem Regal zu ziehen.
Nun liegt es zwischen mir und einer dampfenden Tasse Sojamilchkaffee. Mit einem Mal erinnere ich mich an diverse Handlungspassagen. Oscar streift federleicht die antike Tradition, mal eben so französische Literatur, das Faustische, Ästhetizismus, das Dandytum, Homosexualität, ganz zu schweigen von den zahlreichen Deutungen aus psychologischer Sicht. Nun schüttle ich meinen Kopf. Fassungslosigkeit. Alles drin, in den vor mir liegenden 215 Seiten. Wildes einziger Roman! Unglaublich!
Neid regt sich und ich nehme einen zu großen Schluck von dem viel zu heißen Kaffee.
Und schon ist die Zunge verbrannt.
Ja, denke ich, nicht nur Hochmut, auch der Neid kommt vor dem Fall.
Sachte lasse ich die Seiten wie ein Daumenkino vor meinen Augen vorbei fächern. Als ich „Das Bildnis des Dorian Gray“ 1993 das erste Mal gelesen habe, war ich berauscht von der Geschichte.
Nun frage ich mich, ob ich heute noch genauso empfinden würde. Okay, ich bin seitdem ein paar Jährchen älter und reifer geworden (wenn schon älter, dann hoffentlich auch das Letztere). Und was 1891 zu Wildes Zeiten als anrüchig galt, bringt die heutige Christian-Grey-Generation nach Fity Shades nicht einfach so in Ekstase.
Um mir die Zeit bis zum nächstmöglichen Schluck Kaffee zu vertreiben – und auch, um meine Erinnerungen ein wenig auf Trap zu bringen – überfliege ich den Klappentext …
“Als das von einem bekannten Londoner Gesellschaftsmaler geschaffene Bildnis Dorian Grays vollendet ist, verpfändet der Dargestellte seine Seele, um sich die auf der Leinwand verewigte eigene Schönheit zeitlebens zu erhalten und das Porträt statt des Porträtierten altern zu lassen. …“
Schönheit … altern … Ich halte
inne. Ein Groschen ist gefallen
(kennt die Youtube-Generation diesen Ausdruck überhaupt noch? Egal, der Groschen ist also gerade gefallen …). Und schon habe ich die Begegnung mit meiner Mutter vor Augen. Muss Anfang der Wochen gewesen sein. Wir hatten uns vor meiner Garage getroffen und geplauscht. Da sagte sie
aus heiterem Himmel: „Lach mich mal an!“ Ich dachte, ich schaue zu verkniffen und tat ihr den Gefallen. Sie sagte: „Zeig mal mehr deine Zähne!“ Langsam kam mir, dass ich vielleicht seit der Mittagspause Essensreste präsentierte, die meine Umwelt bisher wohlwollend schweigend zur Kenntnis genommen hatte. Meine Mutter aber sagte: „Deine Zähne sind so gelb geworden.“ WIE BITTE? Sofort krümmte sich mein Ego unter diesem unerwarteten Messerstich. Und sie fügte noch hinzu: „Vielleicht sind´s auch die Lichtverhältnisse. Aber du hattest immer so schöne Weiße!“ Und mit tröstendem Unterton, da sie weiß, dass ich nicht Rauche und meine Zähne immer pflege: „Im Alter ist das halt so. Da werden die von
selbst gelblicher.“ WIE BITTE? Mit blutendem Ego beendete ich das Gespräch, verzog mich in meine Wohnung und schrieb noch in Schuhe und Mantel auf meinen Einkaufszettel: ZAHNWEISS!
Allein diese leidig schmerzende Erinnerung bringt einen natürlich nicht unbedingt dazu, sich nachts von Dorian
Gray auslachen zu lassen. Aber als i-Tüpfelchen vieler solcher kleineren Ereignisse, führt sie durchaus zur Erkenntnis, dass sich das Alter aus recht unerwarteten Richtungen anschleicht.
Ich denke und kombiniere:
Vermeide Blick in den Spiegel, Blick auf das eigene Porträt, eines, das ich selbst geschaffen habe … zwei vollendete Zeichnungen auf meiner Staffelei … in meiner Erinnerung lacht Dorian Gray …
Ich stehe vom Esstisch auf und gehe mit Buch und Kaffee in meine Kreativecke. Hier, neben der Staffelei, steht mein Zeichentisch. Darauf ein altes Stück Karton, das als Malunterlage dient, etliche Zeitungsausschnitte, Schwarz-Weiß-Drucke und Fotos für ein neues Projekt. Daneben ruht mein Laptop. Drumherum liegen mein Jacob-Manuskript, eine Textsammelmappe und etliche Notizzettel mit Kurzgeschichtenentwürfen.
Ich nehme einen ordentlichen Schluck Kaffee. In knapp drei Monaten hatte ich zwei Zeichnungen geschaffen,
die Porträts zeigen. Eingebettet in meine eigenen Texte. Illustrationen zu zwei meiner Kurzgeschichten. Gerahmt und betitelt waren sie gerade in einer lokalen Ausstellung zu sehen gewesen.
Und schon wieder zwickt mein Ego. Fast hatte ich es vergessen. Zwischen Arbeit, Zahnpflege und Künstlerprojekte. Am Tag des Ausstellungsaufbaus war ein interessierter Künstlerkollege zu mir gekommen und wollte einen Vorabblick auf meine Bilder erhaschen. Ich hatte ihm den Gefallen getan. Und es wie jedes Jahr bereut.
Ob die eine Zeichnung einen Mann oder eine Frau darstellen solle, fragte er mich. Verwirrt hatte ich mein
eigenes Bild gemustert, obwohl ich es doch soviel besser wusste. Über breite Stirn und Nase lässt sich streiten. Aber über einen angedeuteten Vollbart? Mein Ego hatte laut rumort. Ich geschwiegen. Bis zum Tag des Ausstellungsabbaus. Derselbe Kollege fragte, ob ich an der Zeichenakademie gelernt hätte. Mein Ego jubelte. Ich verneinte. Die Welt schien wieder gut und gerecht. Doch dann legte er nach: „Was soll eigentlich dieser Text auf deinen Bildern?“, fragte er mich. „Man kann ihn kaum lesen. Und so sehr ich meine außerordentliche Fantasie auch bemühe, aber die Texte geben beim besten Willen keinen Sinn.“
Da war er. Der zweite Messerstich in einer Woche direkt in mein Ego. Sofort bin ich wieder in meinem Traum: Dorian Gray lacht mich aus. Ich greife zur Ablenkung wieder Wildes Roman und lese den Rest der Inhaltsangabe …
„Der Teufelspakt aber ist befristet, und am Ende fordert die gestundete Vergänglichkeit ihren Preis: Mit gezücktem Messer attackiert der zum Mörder gewordene Dorian Gray in
besinnungsloser Wut das ihn als aufgeschwemmten Wüstling darstellende Bildnis – und wird, erstochen vor dem nun wieder makellos schönen Porträt in seinem Blute
liegend, von einem Bediensteten aufgefunden.“
Natürlich erkenne ich die Schlagworte: Messer, Vergänglichkeit und Wut.
Dennoch muss ich schmunzeln.
Daumen hoch für die präzis verschachtelte und dennoch auf den Punkt gebrachte Inhaltsangabe des Ullstein Verlages aus dem 1992!
Spontan fallen mir sehr passende Entgegnungen ein, die ich elegant parierend meinem Kollegen auf die Nase hätte binden können. Doch dann geht es mir geradeso, wie am Ende der Kunstausstellung. Kurz vor der Ausgangstür. Mit beiden Bildern unter dem Arm hatte ich bereits vergessen, meinen Künstlerkollegen um Erklärungen zu seinen Bildern zu bitten, die meine Fantasie zur Erhellung derer Inhalte durchaus benötigt hätte.
Ich nehme einen beherzten Schluck aus meinem Becher. Die Sojamilch hat den Kaffee schneller abgekühlt, als
gedacht. Während ich zurück zu meiner geliebten Kaffeemaschine gehe, wird mir bewusst, dass ich letzte Nacht vieles war.
Ich war Erschaffer und Betrachter. Künstler meines Lebens und Kritiker meines Selbst. Etwas Junges, das etwas Altes schafft und ein Alter, der über die Jugend lacht.
Während ich mir die zweite Tasse Kaffee brühe, bekomme ich so richtig Lust, das Buch zu lesen. Jetzt sofort. Ich schlage es auf und habe den ersten Satz von Oscar Wildes Vorwort vor Augen:
„Der Künstler ist der Schöpfer schöner Dinge.“
Ich schmunzle. Und überfliege die folgenden Absätze …
„Diejenigen, welche hässliche Absichten in schönen Dingen entdecken, sind verdorben, ohne andere zu entzücken. Das ist ein Mangel.“
Ich lächle …
„Meinungsverschiedenheit über ein Kunstwerk beweist, dass es neu, eigenartig und lebensfähig ist. (…) Wenn
die Kritik nicht übereinstimmt, ist der Künstler mit sich selbst im reinen.“
Ich nehme ein Stück Schokokuchen aus dem Kühlschrank, gehe mit Tasse und Teller am Flurspiegel vorbei und schenke mir selbst ein breites Lächeln. Nach der Begegnung mit meiner Mutter hatte ich einen Kontrolltermin beim Zahnarzt. Heraus kam, dass ich, wenn ich wieder mal zu viel von stark färbenden Lebensmitteln wie rote Bete esse, mir besser sofort danach die Zähne putzen sollte.
Ich lasse mich in meiner Leseecke nieder, kuschle mich genüsslich in meinen Ohrensessel und lehne mich mit Oscar Wildes einzigem Roman zurück. Bevor ich mit dem Buch beginne, betrachte ich mich in der gewölbten Seite des Kaffeelöffels. Ich lächle noch immer. Ich Glückliche habe nämlich heute frei und kann den ganzen Tag mit Dorian Gray verbringen.
Seit unserer letzten Begegnung bin ich 23 Jahre älter und meine Zähne vielleicht auch geputzt etwas gelblicher.
Aber ändert das was? Bin ich deshalb weniger ich?
Ich tauche den Löffel in den Sojamilchkaffee. Und entscheide: Ich bin heute sogar mehr. Mehr an Erfahrung,
mehr an Geschichte. Und nachdem ich den letzten Gruß Oscar Wildes auf Seite 6 lese und noch bevor ich mit Kapitel I beginne, fällt mir der Plot für eine neue Kurzgeschichte ein … das Notizbüchlein liegt griffbereit auf dem Beistelltisch … ich notiere … da fällt mir eine Lösung für eines meiner verzwickten Jacob-Kapitel ein … ich notiere … und dann war da doch noch der Blog für nächsten Monat … ja, genau! Das ist es!
Ich schreibe …
Bis dahin …
Danke, dass ihr mich in 2017 begleitet habt!
Danke, dass ihr, auch wenn´s mal wieder länger gedauert hat, mich nicht vergessen habt!
Euch und euren Lieben alles erdenklich Gute, ruhige Feiertage, besinnliche Weihnachtsstimmung und einen
freudigen Sprung ins Jahr 2018!
Wir treffen uns dort!
Eure Simone
SAM Wolf
PS: Vielleicht besucht mich Dorian irgendwann mal wieder nachts im Traum. Dann werde ich mit ihm lachen.
Und ihn fest in die Arme nehmen. Denn im Grund war er eine arme S.. – äh, Gestalt – die keine Liebe für sich, andere oder das Leben empfand – das heißt im Grunde, das Gefühl zu lieben niemals wirklich verstand.
PPS: Danke an Pexels, congerdesign, Webster2703 und bodobe von Pixabay für die schönen Fotos!