Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins oder: Ich fühl mich voll Curcuma

sam wolf-Autorin-Simone Müller-Krimi-Märchen-Mystery

Mein Wecker klingelt. Noch halb im Traum fliegen Worte durch meinen Kopf: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. „Warum?“, fragt mich mein Bewusstsein. „Du hast das Buch doch nie gelesen.“ Der Wecker schüttelt sich davon unbeeindruckt.

Die Blechtrommel, denkt mein Geist. „Den Günter Grass hast du aber auch noch nicht gelesen“, sagt mein Bewusstsein. Mit einem Hieb bringe ich beide zum Schweigen. Wem die Stunde schlägt, denkt mein Geist. „Tse, Ernest Hemingway“, sagt mein Bewusstsein. „Wüsste nicht, dass wir uns um den je gekümmert haben.“

Ich rupfe meine Augen auf. Es ist also soweit. Der Einsiedler in mir hat einen Partner gefunden: mein geistig verwirrtes Unterbewusstsein. „War bloß eine Frage der Zeit“, sagt mein Bewusstsein. Aber warum, frage ich, kommuniziert es mithilfe von Büchern, die ich nie gelesen habe? Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins.

Vielleicht muckt mein Geist auf, weil ich den Wecker konsequent auf halb sieben stelle. Auch für diesen Sonntagmorgen. Und an jedem anderen Tag, obwohl ich es zurzeit nicht bräuchte. Aber irgendeinen Rhythmus braucht doch der Mensch, oder? Die Ordnung der Dinge, denkt mein Geist. „Wow, Michel Foucault“, sagt mein Bewusstsein. „Hast du überhaupt eine Ahnung, worum es in seinem Roman geht?“ Nein.

Ich schlurfe ins Bad, in die Küche, an den Esstisch. Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Ich begreife nicht, was mir mein Kleinhirn heute mitteilen will, indem es diesen Titel wiederholt. „Milan Kundera krallt sich in deinem Kopf fest“, sagt mein Bewusstsein, „wie ein fieser Ohrwurm, den du mit nichts bekämpfen kannst.“ Der Krieg der Welten, denkt mein Geist. „Holla, H. G. Wells“, sagt mein Bewusstsein. „Immerhin kennst du dessen Zeitmaschine.“ Kann bitte einer von euch den Hebel umlegen? Keine Antwort.

Ich hole Sojadrink, Pflanzenmagarine und Himbeermarmelade aus dem Kühlschrank und arrangiere die Kombi vor mir auf dem Tisch wie Jason Bourne sein Waffenarsenal. Die Musterung zeigt, ich habe vergessen, die Kaffeemaschine einzuschalten. Ohne Kaffee hilft die beste Waffe nix. Ich treffe die Tischplatte mit der … Faust: Eine Tragödie, denkt mein Geist. „Jetzt auch noch Goethe oder was?“, sagt mein Bewusstsein. Bitte, sage ich, bekommen wir jetzt uns alle mal wieder ein?

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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. „Hat Kundera während seines Exils in Frankreich veröffentlicht“, sagt mein Bewusstsein. „Wie du weißt, bedeutet Exil einen bitteren und unfreiwilligen Einschnitt in das Leben eines Menschen. Gezeichnet durch leidige Worte wie Verbannung und Vertreibung.“ Früchte des Zorns, denkt mein Geist. „Nee, die Frucht von John Steinbeck“, sagt mein Bewusstsein. „Und ungelesen.“

Hallo?! Ich lebe gerade in einer Zeit, die sich ebenfalls durch ein leidiges V auszeichnet. Eines, dessen Namen hier nicht genannt werden darf. Und nein, es geht nicht um den mutierten Bösewicht Voldemort aus den Romanen von J. K. Rowling!

Ich schmiere mir eine extra Schicht Himbeermarmelade auf eine Buchweizenschnitte und blinzele zum Bücherregal. Über den fünften Band von Harry Potter bin ich nie hinausgekommen. Der ist aber auch der dickste der sieben Bände. Allein sein Anblick erschreckt mich.

Zeit für den Einsatz der Kaffeemaschine. Der Duft eines unter Druck mit heißem Wasser drangsalierten Pads, gefüllt mit zermahlenen Kaffeebohnen, hilft bei besonders schweren Fällen. Um meinem Geist keine Gelegenheit zu gegen, reinzugrätschen, summe ich eine kleine Melodie … Spiel mir das Lied vom Tod, denkt mein Geist. „Na ja, es gibt auch Filme“, sagt mein Bewusstsein, „die du nicht gesehen hast.“

Prompt schiebt mein Kleinhirn hinterher: Apocalypse Now. „Du solltest dringend am Rädchen deiner Gemütsverfassung drehen!“, sagt mein Bewusstsein. Aber mein Geist pariert mit Stirb langsam. Stopp! Der Tag fängt erst an und ich fühle mich bereits wie das ausgelutschte Kaffeepad in der Maschine. Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins.

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„Setz dich wieder und lies etwas!“, sagt mein Bewusstsein. „Die Wissenschaft bestätigt, dass Lesen beruhigt.“ Ich greife zu dem, was mir am nächsten liegt: mein Smartphone. Vor gut einem Jahr wäre mir das nicht passiert. Nicht vor der ersten Tasse Kaffee. Schöne neue Welt, denkt mein Geist. „Hach, Aldous Huxley!“, sagt mein Bewusstsein, „Den hattest du doch in der Schule.“ Sorry, erinnere mich nicht mehr.

Seit das V (dessen Namen hier nicht genannt werden darf) auf der Bildfläche erschien, überdenke ich eingefahrene Wege. Hab ja Zeit dazu. Wie unser Zeitungsausträger, dessen neuer Weg nicht mehr an meinem Briefkasten vorbeiführt. Ob irgendwann mal ein anderer die Zeitung einwirft? Warten auf Godot, denkt mein Geist. „Oh ha, Samuel Beckett“, sagt mein Bewusstsein. „Aus welchem Stück Hirnrinde ist der denn gefallen?“ Kein Kommentar.

Das Handy liegt kalt und unbiegsam in meiner Hand. Ich schlürfe von meinem Kaffee und gebe dem Kerlchen Saft. Kein einziges Pop-up auf dem Sperrbildschirm! Das wäre vor gut einem Jahr auch nicht passiert. Vom Winde verweht, denkt mein Geist. „Margaret Mitchell“, sagt mein Bewusstsein, „wurde auch verfilmt.“ Schnauze! Und zwar beide.

Als das V auftauchte, ließ ich mich dazu herab, meine Füße in die virtuelle Welt zu setzen. Weil es um die Stillen unter uns in dieser Zeit noch stiller wird. Stolz und Vorurteil, denkt mein Geist. Ja, ich gebe es zu, selbst Jane Austen habe ich noch nicht gelesen. „Wenigstens stehst du dazu“, sagt mein Bewusstsein. Ja, und dazu, dass ich Schreib- und Zeichen-Gruppen online beigetreten bin. Mir war nicht klar, wie viele Gleichgesinnte im stillen Kämmerlein meisterhaftes vollbringen!

Aber wir Schreibende zum Beispiel, die die meiste Zeit aus sich heraus in Quarantäne leben, sind darauf angewiesen, dass ab und zu irgendeiner anklopft. Sonst verkümmern wir. Hundert Jahre Einsamkeit, denkt mein Geist. „Was“, sagt mein Bewusstsein, „hat sich der Gabriel García Márquez denn dabei gedacht?“ Was weiß denn ich.

Ich weiß nur, dass wir Stillen, dauerhaft im Flow, Verständigungsprobleme bekommen wie die Klingonen aus Star Trek. Unsere nonverbale Kommunikation rutscht auf das Niveau eines Terminators. Und wir verfallen in stereotyp ablaufende Verhaltensweisen. Ähnlich wie Pärchen ab 20:15 Uhr auf ihrer Couch. Ich frage mich, wie sich das bei denen in Zeiten von V gestaltet. Die Liebe in den Zeiten der Cholera, denkt mein Geist. „Schon wieder Gabriel García Márquez?“, sagt mein Bewusstsein.

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Okay, jetzt ist Schluss! Laut Wissenschaft reduziert Lesen Stress. Mit La-la-la auf den Lippen, scrolle ich durch den Literaturnewsletter, um Geist und Bewusstsein umzuleiten. Da streifen meine Augen die Notiz: Der Roman Die Pest von Albert Camus ist aktuell vergriffen! Angeblich biete der Stoff nicht nur Parallelen zu heute, er spende auch ein wenig Trost. „Echt jetzt?“, fragt mein Bewusstsein. „Warum hast du das Buch nicht gelesen?“

Ha! Und wenn du dich getröstet hast, kontere ich, wirst du froh sein, mich gekannt zu haben, sagt der kleine Prinz. Antoine de Saint-Exupèry habe ich jedenfalls gelesen. Und genaugenommen fängt das V mit einem C an (dessen Name hier ebenfalls nicht genannt werden darf). „Wie Curcuma?“, fragt mein Bewusstsein. Mmpf! Ich bemühe die Suchmaschine: Curcuma, auch Kurkuma, Gelbsuchtswurz oder Mülleringwer. Na, wenn das nicht passt … Der Name der Rose, denkt mein Geist. „Ach komm schon“, sagt mein Bewusstsein, „wer liest einen Umberto Eco schon zu Ende?“

Ruhe! Ich lese: In Indien gilt Curcuma als heilig. In der traditionellen indischen Heilkunst Ayurveda wird ihm eine reinigende und Energie spendende Wirkung zugesprochen. Genau das ist es, was ich heute brauche! Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, denkt mein Geist. „Erst mal Marcel Proust lesen“, sagt mein Bewusstsein, „dann mitreden!“ Klappe!

Ich springe auf und hechte zum Gewürzregal. Dem Himmel sei dank, ich besitze Curcuma! Hunger, denkt mein Geist. Schon wieder? „Oh je“, sagt mein Bewusstsein, „Knut Hamsun beschreibt in diesem Roman den körperlichen und geistigen Verfall eines erfolglosen Nachwuchsschriftstellers. Dessen seelische Verfassung bewegt sich zwischen Verzweiflung und Wahnsinn.“ SCHEI… wo hast du denn das aufgeschnappt? DEN HAB ICH DOCH GAR NICHT GELESEN!

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Ich wische, tippe, drücke auf meinem Handy herum und konzentriere mich auf Curcuma. Wenn auch nicht wissenschaftlich belegt, soll es zur Stärkung des Immunsystems und zur Prävention von Infektionen und Erkrankungen der Atemwege dienen. Ganz im Gegensatz zum C, das im Umlauf ist.

Ich greife zu und nehme Curcuma in mein Waffenarsenal auf. Nicht alles, was Gold ist, funkelt, zitiere ich aus Der Herr der Ringe, nicht jeder, der wandert, ist verloren. Geist und Bewusstsein verschlägt´s die Sprache. Ha! Lesen wirkt laut Wissenschaft eben auch inspirierend! Und ich will dich bloß erinnern, denkt mein Geist, dass es noch unendlich viel zu lesen gibt. „Jetzt kannst du verständlich reden?“, sagt mein Bewusstsein. „Du Betrüger!“

Halt! Bevor wir uns bekriegen, lese ich laut vor, was am Ende des Newsletter steht: Einer US-Studie zufolge leben Bücherwürmer, die mindestens 3,5 Stunden pro Woche lesen, länger! „Zusammen mit deinem Hähnchen süßsauer“, sagt mein Bewusstsein, „sollte die unerträgliche Leichtigkeit des Seins also zu überstehen sein.“

Lesen ist eben die beste Medizin, denkt mein Geist. Na ja, entgegne ich, wenn Lesen auch nicht alle Wunden heilt, so aber die Zeit, die beim Lesen verstreicht. Und jeder Titel eines Buches, denkt mein Geist, gibt dir einen Anstoß für den Tag. „Unabhängig davon“, sagt mein Bewusstsein, „welche Geschichte sich dahinter verbergen mag.“

Na gut, ihr habt gewonnen. Bevor ich in Zeiten von C völlig den Verstand verliere, nutze ich meine Zeit zum Lesen. Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins?, denkt mein Geist. Nein, denn wie ich über diesen Tag denke, so wird er mir begegnen.

„Ui!“, sagt mein Bewusstsein, „jetzt bin ich gespannt! Welches Buch wird´s heute werden?“ Ein Zimmer für sich allein, denkt mein Geist. Aber mit Virginia Woolf kann ich ihm nicht dienen. Und ziehe aus dem Bücherschrank Das unerhörte Leben des Alex Woods oder Warum das Universum keinen Plan hat.

Und hinterher , denkt mein Geist. „…gibt´s Hähnchen süßsauer“, sagt mein Bewusstsein. Die extra Priese Curcuma, brauche ich wohl nicht zu erwähnen.

In diesem Sinne …

Eure Simone

S.A.M. Wolf

 

PS: Danke Piyapong Saydaung von Pixabay für die passenden Bilder!